Die nachfolgend beschriebenen morphologischen Formen fremder äußerer Gewalt und die typischen Verletzungsmuster erheben keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie entsprechen rechtsmedizinischen Erfahrungen bei der Untersuchung von Opfern körperlicher Gewalt. Sie stellen eine Anregung für den klinisch tätigen Arzt oder die Ärztin dar; auf einschlägige Literatur wird verwiesen.
Morphologie der gewaltsamen Gesundheitsschädigung
Durch die Kenntnis der Morphologie einer Verletzung ist es möglich, diese z. B. als Schürfung, Hämatom, Riss-Quetsch-Wunde, Schnitt- oder Stichverletzung einzuordnen und somit zu diagnostizieren. Dadurch können unter anderem Aussagen über die Art der Gewalteinwirkung getroffen werden.
Verletzungen durch stumpfe Gewalt
Hautabschürfungen
- Sie entstehen durch tangentialen Kontakt mit spitzen (Kratzer) oder flächigen rauen Gegenständen.
- Es handelt sich in der Regel nur um eine Abtragung der Hornschicht der Haut.
- Die Schürfrichtung ist anhand der bei frischen Verletzungen zusammengeschobenen Oberhautfetzen (sog. Oberhautmoränen) erkennbar.
- An der Stelle der abgetragenen Haut entwickelt sich zügig eine Kruste, deren Farbe nach der Tiefe der Verletzung variiert.
Hautunterblutungen
- Sie entstehen durch das Platzen kleiner Blutgefäße bei Einwirkung stärkerer stumpfer Gewalt.
- Sie können in Kombination mit Hautabschürfungen auftreten.
- Die Farbe verändert sich mit der Zeit von blau-violett bzw. rotviolett über grün nach gelb.
• kein eindeutiger Zeitverlauf hinsichtlich farblicher Veränderung
• eine Beschreibung der Farbe reicht für die klinische Befunderhebung aus - Bei stärkerer Gewalteinwirkung können die Form und ein eventuelles Muster des einwirkenden Gegenstandes zurückbleiben (Verdrängung des Blutes bei großer Kraft pro Fläche).
• Unterscheidung von geformten und ungeformten Unterblutungen
Wunden (Riss-Quetsch-Wunde – nicht Prellmarke!)
- Übersteigt die einwirkende Kraft die Widerstandsfähigkeit der Haut, kommt es zu Kontinuitätsdurchtrennungen. Erst dann spricht man von Wunden.
- Wundmerkmale: unregelmäßige, geschürfte Wundränder, Gewebsbrücken im Wundgrund
Spezielle Formen/Kombinationen
Bissverletzungen
- in der Regel eine Kombination aus Hautabschürfung, Quetschwunde und Unterblutung, verursacht durch die Zähne
- Bei Bisswunden durch Menschen ist eventuell ein sogenannter Bissring (Abdruck der Zahnreihen) erkennbar.
Ohrfeige
- Häufige Folgen sind geformte Unterblutungen im Gesicht (Wange, Unterkiefer) und/oder am Ohr bzw. an der Hinterohrregion.
- ggf. Unterscheidung zwischen Hautrötung und Unterblutung durch Prüfung der Wegdrückbarkeit mittels Glasspatel
- Gefahr des Barotraumas mit Trommelfellruptur
Faustschlag
- Je nach Intensität des Schlages und der getroffenen Körperregion treten Kombinationen der folgenden Verletzungen auf: Hautunterblutungen, Riss-Quetsch-Wunden, Knochenbrüche, innere Verletzungen.
- Bei einem Schlag gegen das Gesicht treten häufig eine Umblutung des Auges (Monokelhämatom), Riss-Quetsch-Wunden der Lippen, der Nasenhaut, der Haut der Jochbeinregion, Frakturen (Augenhöhlenboden, Nasenbein, Jochbein) und Zahnabbrüche auf.
Fußtritt
- Abhängig von der Intensität, dem Schuhwerk und beispielsweise der getroffenen Kopfregion entstehen sehr häufig schwerste Verletzungen (Hautunterblutungen, Riss-Quetsch-Wunden, Schädelfrakturen mit intrakraniellen Verletzungen).
- Möglicherweise ist das Schuhprofil als geformte Hautunterblutung erkennbar (Negativabdruck).
Verletzungen durch scharfe Gewalt
Stichverletzungen
- entstehen durch senkrechten oder schrägen Einstich eines schmalen, scharfen Gegenstandes (z. B. Messer, Schere)
- glattrandige Hautdurchtrennung mit Fortsetzung eines Stichkanals von der Einstichwunde in die Tiefe, zumeist tiefer als lang
- Wundränder sind glattrandig, keine Gewebebrücken, keine Schürfungen der Wundränder
- Wundwinkel in der Regel spitz, sie können die Beschaffenheit des Messers widerspiegeln (stumpfer Wundwinkel = Messerrücken, spitzer Wundwinkel = Messerschneide), Ausbildung eines sogenannten Schwalbenschwanzes durch Relativbewegungen von Werkzeug und/oder Körper möglich.
- Aus der Größe der Wunde sind keine sicheren Aussagen zu Klingenbreite und -länge möglich.
Schnittverletzungen
- entstehen durch ein mit Druck und Zug geführtes scharfes Werkzeug (z. B. Messer, Scheren, Glasscherben)
- zumeist länger als tief
- glattrandige Hautdurchtrennungen ohne Gewebebrücken und Schürfungen
Abwehrverletzungen
- wichtiger Hinweis für einen stattgefundenen Angriff
- Unterscheidung in aktive und passive Abwehrverletzungen
Aktive Abwehrverletzungen:
• Im Rahmen scharfer Gewalt durch Greifen in das Messer des Angreifers – daraus resultieren Schnittverletzungen an den Händen und Fingern.
• Im Rahmen stumpfer Gewalt durch das Parieren von Schlägen – daraus resultieren Hautunterblutungen an den Unterarmaußenseiten (sogenannte Parierverletzungen).
Passive Abwehrverletzungen
• Entstehen durch das Vorhalten der Hände vor das Gesicht – Lokalisationen sind oft die Handrücken und die Außenseiten der Unterarme. Sowohl Schnitt- und/oder Stichverletzungen als auch Hautunterblutungen und/oder -abschürfungen sind möglich.
Sonderform von Verletzungen durch thermische Gewalt
Zigarettenbrandverletzungen
- In der Frühphase zeigt sich eine ca. 1 cm große Hautläsion mit blassem Zentrum und hyperämischem Rand.
- Es folgt die Entwicklung einer Blase oder (bei drittgradiger Verbrennung) die Ausbildung einer Nekrose.
- Im Spätstadium zeigt sich die Haut der Läsion seidenpapierartig, der Rand ist stärker pigmentiert.
Verletzungen durch chemische Gewalt
Verätzungen
- Verätzungen an der Haut können sehr variabel aussehen. Es kann ein Erythem und/oder Blasenbildung erkennbar sein oder bis zur Nekrose kommen, häufig ungeformt und unregelmäßig begrenzt.
- Verätzungen an den Schleimhäuten können häufig als oberflächliche Nekrosen erkannt werden.
Morphologie der Gewalteinwirkung gegen den Hals
Strangulation allgemein
- Oberbegriff für alle den Hals komprimierenden Gewaltarten
- Verschiedene Pathomechanismen (Obstruktion der Halsarterien, venöse Stauung, Obstruktion der Atemwege) wirken dabei nebeneinander und je nach Art der Gewalteinwirkung (Erhängen, Drosseln, Würgen) in unterschiedlicher Gewichtung.
- Für die klinische Praxis spielen dabei bevorzugt Drosseln und Würgen eine Rolle.
- Allen genannten Formen ist gemein, dass sie eine das Leben des Betreffenden bedrohende Einwirkung darstellen.
- Typischerweise kommt es zu folgenden sichtbaren Verletzungen:
• Abschürfungen und Unterblutungen der Halshaut
• Stauungsblutungen (Petechien) im Kopfbereich (vor allem in den Lid- und Lidbindehäuten)
• subjektive Beschwerden (Schluckstörungen, Halsschmerzen)
Drosseln
- Als Drosseln wird die Strangulation mittels eines Drosselwerkzeugs (z. B. Seil, Gürtel, Schal, Kabel) bezeichnet.
- Es handelt sich zumeist um Fremdbeibringung.
- Äußerlich kommt es typischerweise zur Ausbildung ausgeprägter Stauungsblutungen im Kopfbereich (Petechien).
- In der Regel (je nach Werkzeug) ist am Hals der betroffenen Person eine horizontal verlaufende Drosselmarke erkennbar. Diese stellt sich beispielsweise als dezente Rötung oder sehr oberflächliche Hautabschürfung mit oder ohne Unterblutung dar. Die Morphologie der Drosselmarke variiert je nach Drosselwerkzeug.
Würgen
- Als Würgen bezeichnet man eine Strangulation, bei der der Hals des Opfers durch eine oder beide Hände des Täters zugedrückt wird. Selbstbeibringung kommt praktisch nicht vor.
- Äußerlich kommt es auch beim Würgen typischerweise zur Ausbildung ausgeprägter Stauungsblutungen im Kopfbereich (Petechien).
- Die Halsbefunde sind weniger spezifisch. Hier kommen z. B. kleine, oberflächliche Hautabschürfungen (Kratzer) und kleinfleckige oder streifenförmige Unterblutungen an den Halsseiten vor.
Typische Verletzungen nach sexualisierter Gewalt
Extragenitale Verletzungen
- Spreizverletzungen
Hämatome, Kratzer, Schürfungen an den Oberschenkelinnenseiten - Biss-/Saugverletzungen
bevorzugt an Mammae, Genitalregion, Gesäß und Oberschenkel - Halskompression
Petechien, Rötungen und/oder Schürfungen und/oder Unterblutungen am Hals - Entkleidungsverletzungen
meist senkrechte Schürfungen und Kratzer im BH-/Hosenbundbereich - Widerlagerverletzungen
Hämatome, Schürfungen im Bereich der Schulterblätter und des Kreuzbeins - Fixierungsverletzungen an der Rumpfvorderseite
bevorzugt Hämatome - Fesselungs- und Griffspuren an Armen und Beinen
- Verletzungsfolgen einer vorangehenden Angriffshandlung
beispielsweise Faustschläge, oberflächliche Schnittverletzungen
Anogenitale Verletzungen
- Genitalverletzungen bei Frauen
Verletzungen durch vaginalen Geschlechtsverkehr (Blutungen, Hämatome, Einrisse von Haut und Schleimhaut an Vulva, Introitus, Scheide, Anus) - Genitalverletzungen bei Männern
Bissverletzungen und/oder Hautunterblutungen am Penis - Analverletzungen
- geschlechtsunabhängig
- Schleimhauteinrisse und Hämatome
- perforierende Verletzungen
Typische Verletzungen nach häuslicher Gewalt
Psychische Symptome und Verhaltensauffälligkeiten
Folgende Symptome können auf vorangegangene Traumatisierungen hinweisen:
- Schlafstörungen/Albträume
- Suizidalität: suizidale Gedanken, suizidale Handlungen, Äußerung von Suizidabsichten, Suizidversuch
- Minderung des Selbstwertgefühls
- Sexuelle Störungen
- Sozialer Rückzug
- Dissoziative Zustände: Die zu behandelnde Person zeigt spezifische unterschiedliche klinische Symptome wie z. B. Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, pseudoneurologische Symptome.
- Selbstverletzungen: bewusstes Verletzen des eigenen Körpers (z. B. durch Schneiden, Sich-Schlagen, Verbrennen) mit dem Ziel der Spannungsabfuhr ohne suizidale Absichten
Infolge schwerer und wiederholter Traumatisierungen kann es zur Entwicklung spezifischer und unspezifischer Folgeerkrankungen kommen:
- Depressionen: Der oder die Betroffene berichtet über anhaltende Traurigkeit und Interessenverlust mit Insuffizienzerleben, Antriebsverlust, Grübelneigung und eventuell körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Appetitverlust sowie suizidale Gedanken und Schuldgefühle.
- Angststörungen: Die zu behandelnde Person berichtet über plötzlich auftretende oder anhaltende, unangemessene Ängste mit vegetativer Symptomatik (Schwitzen, Zittern, Herzrasen), eventuell werden bestimmte auslösende Situationenen vermieden (z. B. Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel, soziale Situationen).
- Alkohol-, Medikamenten-, illegale Drogengebrauchsstörungen
- Essstörungen: anorektisches Essverhalten (Angst vor Gewichtszunahme und absichtlich herbeigeführtes Untergewicht, BMI < 17), bulimisches Essverhalten (Heißhungerattacken und gegenregulierende Maßnahmen, vor allem selbst induziertes Erbrechen und Laxantienabusus), Binge Eating (Heißhungerattacken ohne gegenregulierende Maßnahmen), Adipositas
- Posttraumatische Belastungsstörung: Der oder die Betroffene berichtet über lebhafte innere Bilder oder bildhafte Erinnerungen an die traumatische Situation (Flashbacks), erhöhte Schreckhaftigkeit, Vermeiden von Situationen, die diese Bilder auslösen können.