Vorbemerkung
Die gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen dient der Sicherung von Beweisen und ist somit unverzichtbar für weitere Ermittlungen. Sie sollte möglichst zeitnah zur Tat erfolgen, denn nicht rechtzeitig dokumentierte Verletzungen sind für ein mögliches Verfahren für immer verloren. Die gerichtsverwertbare Dokumentation umfasst dabei eine schriftliche Dokumentation (Beschreibung und Einzeichnung in ein Körperschema) und eine Fotodokumentation sowie gegebenenfalls eine Dokumentation und Sicherung von biologischen Spuren.
Auch wenn die gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungen nicht Teil der kurativen Behandlung ist, so profitieren die Betroffenen dennoch enorm davon. Eine sorgfältige und vollständige Dokumentation ermöglicht:
- eine Verbesserung der Beweisgrundlage
- eine Vermeidung sekundärer Traumatisierung durch ein Gerichtsverfahren ohne Beweismittel
- eine Erhöhung der Rechtssicherheit für die Betroffenen
Bedenken Sie auch bei der Untersuchung, dass jederzeit ein sogenannter „Flashback“ (plötzliches Wiedererleben der traumatischen Situation) auftreten kann. Bleiben Sie in diesem Fall ruhig, brechen Sie die Untersuchung ab und reden Sie beruhigend auf Ihre Patientin bzw. Ihren Patienten ein, ohne sie bzw. ihn zu bedrängen. Oftmals helfen körperliche Aktivitäten, die im Widerspruch zum wiedererlebten Trauma-Ereignis stehen: Reichen Sie z. B. ein Glas Wasser oder bitten Sie Ihre Patientin bzw. Ihren Patienten, allein einige Schritte durch den Raum zu gehen. Lassen Sie Ihre Patientin bzw. Ihren Patienten dabei nicht unbeaufsichtigt!
Praktisches Vorgehen
Wie bei jeder ärztlichen Tätigkeit an zu behandelnden Personen ist auch bei der gerichtsverwertbaren Verletzungsdokumentation das Einverständnis der zu untersuchenden Person Voraussetzung. Dazu ist es erforderlich, der betroffenen Person den Untersuchungshergang zu erläutern. Bei der Untersuchung sollte vollständige Nacktheit vermieden werden, es ist auf einen respektvollen und einfühlsamen Untersuchungsablauf zu achten. Bieten Sie bei Bedarf kurze Pausen, ein Glas Wasser und Taschentücher an.
Die Untersuchung von Gewaltbetroffenen und vor allem die Dokumentation der entsprechenden Befunde unterscheiden sich im Umfang sehr stark von einer üblichen, dem diagnostischen und therapeutischen Auftrag gemäßen klinischen Untersuchung und Befunddokumentation. Aus diesem Grund ist die Verwendung spezieller Dokumentationsbögen mit Checklistencharakter (siehe Downloadbereich) zu empfehlen.
Mit diesen werden auch die allgemeinen Daten (Personalien, Untersuchungsort, Untersuchende(r), weitere Anwesende, Vorerkrankungen etc.) erfasst.
Grundlage einer gerichtsverwertbaren Verletzungsdokumentation ist eine Ganzkörperuntersuchung von Kopf bis Fuß. Diese muss zwingend auch normalerweise nicht einsehbare Körperregionen einbeziehen (z. B. Augenbindehäute, Hinterohrregion, behaarte Kopfhaut, Innenseiten der Arme und Beine). Alle Verletzungen, auch kleinste Kratzer o. ä. (sogenannte Bagatellverletzungen), müssen dokumentiert werden. Denn auch diese Verletzungen können gegebenenfalls wichtige Hinweise liefern. Weiterhin sind wichtige Negativbefunde zu vermerken (z. B. „keine Petechien in den Lid- und Lidbindehäuten“, „Halshaut unverletzt“). Achten Sie auch auf die psychische Verfassung Ihres Gegenübers! Beschreiben Sie diese, anstatt sie zu werten.
Gegebenenfalls ist die Rechtsmedizin konsiliarisch hinzuzuziehen. Die Institute für Rechtsmedizin der Universitätsmedizin Greifswald und Rostock bieten eine kostenfreie und rund um die Uhr erreichbare Untersuchungsstelle für Gewaltopfer (sogenannte Gewaltopferambulanz) an und kommen auch zu Untersuchungen in die Fläche des Landes (Kontaktdaten und Telefonnummer finden Sie hier). So ist es für Sie möglich, rechtsmedizinische Hilfe auch ohne das Einschalten der Polizei
hinzuzuziehen. Die Rechtsmedizin unterliegt in diesen Fällen der ärztlichen Schweigepflicht, die Dokumentationen werden zeitlich unbegrenzt aufbewahrt und sind für die Betroffenen jederzeit verfügbar. In folgenden Fällen ist die Hinzuziehung der Rechtsmedizin angezeigt:
- Verdacht auf Tötungsversuch
- wenn akute Lebensgefahr bestand bzw. dies nicht ausgeschlossen werden kann
- generell bei Verdacht auf ein Sexualdeliktbei Hinweisen auf Gewalt gegen den Hals (Würgen, Drosseln o. ä.)
- Fragestellungen, die einer Rekonstruktion bedürfen (Sturz vs. Schlag, Anfahrrichtung bei PKW gegen Fußgänger)
- wenn relevante bleibende Folgen zu erwarten sind
Verletzungsbeschreibung
Nur die korrekte Beschreibung einer Verletzung ermöglicht eine spätere Interpretation ihrer Verursachung und des Tathergangs. Die Beschreibung muss objektiv erfolgen. Subjektive Bewertungen wie „frische Prellmarke“, „älteres Schuhsohlenprofil“ sind wertlos, da daraus der eigentliche Befund nicht rekonstruierbar ist und somit z. B. kein (sachverständiges) Urteil zur Entstehung erfolgen kann. Ein völlig absurder Begriff, der niemals verwendet werden darf, ist der Begriff „Prellmarke“.
Eine objektive Verletzungsbeschreibung umfasst Folgendes:
1. Lokalisation der Verletzung
- Wo genau befindet sich die Verletzung?
- Verletzung in ein Körperschema einzeichnen
2. Anzahl der Verletzungen
- Wie viele Verletzungen bestehen an dieser Stelle?
3. Größe der Verletzung
- Wie groß ist die Verletzung?
4. Form der Verletzung
- Welche Form hat die Verletzung? Geformt? Ungeformt?
5. Art der Verletzung
- Um welche Art der Verletzung handelt es sich? Unterblutung? Abschürfung? Wunde?
6. Spezielle Eigenschaften der Verletzung
- Farbe, Wundränder, Wundwinkel, Wundgrund, Schwellung, Zeichen der Wundheilung
Beispiele:
- „An der linken Oberarmaußenseite eine 3 cm x 5 cm messende, unregelmäßig geformte Unterblutung von blauvioletter Farbe.“
- „An der rechten Halsseite, auf Höhe des Kehlkopfes, eine quergestellte, streifenförmige, 3 cm x 7 cm messende, blassrote Hautabschürfung.“
- „Etwa 5 cm unterhalb des linken Schulterblattes eine längsgestellte, 3 cm messende, glattrandige Hautdurchtrennung mit spitzen Wundwinkeln. In der Tiefe Unterhautfettgewebe und Blut erkennbar. “
Dokumentation von Folgen sexualisierter Gewalt
Empfohlener Dokumentationsbogen: „Untersuchungsbogen für Opfer nach Sexualdelikten“, siehe Downlaodbereich.
Vorgehen in Verdachtsfällen:
- frühzeitige Involvierung eines Gynäkologen oder einer Gynäkologin bzw. eines Urologen oder einer Urologin
- exakte Anamnese:
• Tathergang, akute extragenitale und anogenitale Beschwerden
• letzte Regelblutung, letzter einvernehmlicher Geschlechtsverkehr, letzte Reinigung von Körper und Genitale, Wechsel der Bekleidung zwischen Vorfall und Untersuchung, Mundhygiene, letztmaliges Wasserlassen und Stuhlgang, Medikamenteneinnahme - Ganzkörperuntersuchung zur Erfassung von Begleitverletzungen (siehe 2.3)
- Die Hinzuziehung der Rechtsmedizin für die Dokumentation ist zu empfehlen!
• 24-h-Rufbereitschaft Institut für Rechtsmedizin Greifswald: 0172/3182602
• 24-h-Rufbereitschaft Institut für Rechtsmedizin Rostock: 0172/ 9506148 - Untersuchung in Steinschnittlage zur Erfassung von Verletzungen des Genitales und des Anus:
Frauen:
• Inspektion der Schamhaare (Verklebungen, Fremdhaare)
• Inspektion des äußeren Genitales (große/kleine Schamlippen, Umschlagfalten, Scheidenvorhof)
• Inspektion des inneren Genitales soweit einsehbar (Hymen, Scheidengewölbe, Portio vaginalis cervicis)
• ggf. Spurensicherung (siehe Pkt. 3.5)
Männer:
• Inspektion der Schamhaare (Verklebungen, Fremdhaare)
• Inspektion des äußeren Genitales (Penis, Hoden)
• ggf. Spurensicherung (siehe Pkt. 3.5)
beide Geschlechter:
• Bei Verdacht auf anale Verletzungen chirurgisches Konsil einleiten (Inspektion des Anus und ggf. Spurensicherung – siehe Pkt. 3.5)
• Abstrich- und Blutentnahme zum Erregernachweis („sexually transmitted diseases“)
• Lues, Chlamydien, HPV, Herpes genitalis, HIV, Hepatitis B und C
• Postexpositionsprophylaxe
• ggf. Schwangerschaftstest und Aufklärung zur „Pille danach“
Sicherung biologischer Spuren
- Bis 72 h nach dem Vorfall ist eine Spurensicherung sinnvoll.
- In der Regel erfolgt eine Spurensicherung im Auftrag und mit Material der Polizei.
- Sollte keine Polizei involviert sein, kann eine anonyme Spurensicherung in Absprache mit der Rechtsmedizin und mit Einverständnis der betroffenen Person erfolgen.
Vorgehen bei der Spurensicherung: Alle Abstriche werden stets mit behandschuhten Händen vorgenommen (Gefahr der Verschleppung von Fremd-DNA).
- Benötigte Materialien:
• sterile Wattetupfer (möglichst selbsttrocknend)
• sterile Kochsalzlösung oder steriles Aqua dest
• Handschuhe (für die Untersuchung)
• Etiketten (zur sicheren Beschriftung) - Reihenfolge der Abstriche entsprechend des Untersuchungsablaufes, jeweils mindestens zwei angefeuchtete Wattetupfer pro Lokalisation
- Genitale Abstriche bei Frauen
• große und kleine Schamlippen
• Scheidenvorhof
• Umschlagfalten (Grenze zwischen kleinen und großen Schamlippen)
• hinteres Scheidengewölbe
• Portio vaginalis cervicis
• ggf. Cervixsekret - Genitale Abstriche bei Männern
• Glans Penis
• Penisschaft
• ggf. Hoden - Anale Abstriche:
• Anus und Rektum - Ggf. weitere Abstriche mit angefeuchteten Wattetupfern von Verletzungen an
• Hals, Brust, Oberschenkeln
Wichtig:
- Alle Abstriche müssen vollständig trocknen (insbesondere bei nicht selbsttrocknenden Wattetupfern zu beachten)
- Beschriftung der Abstriche mit Name, Ort der Entnahme, Datum
- Asservierung durch die Polizei, in der Krankenakte oder durch die Rechtsmedizin
- bei Unsicherheiten: Konsiliarische Hinzuziehung der Rechtsmedizin (siehe hier)
Ggf. Asservierung weiterer Materialien:
- Blut und Urin für mögliche chemisch-toxikologische Untersuchungen
- Fingernägel (bei entsprechender Anamnese, dass das Opfer den Täter gekratzt hat)
- Auskämmen von Schamhaaren zur Sicherung von Fremdhaaren
- Bekleidung:
• Die zum Vorfallszeitpunkt getragene Bekleidung sollte ggf. einzeln in Papiertüten asserviert werden (sofern noch nicht durch die Polizei erfolgt).
• Keine Verwendung von Plastiktüten!
• Beschriftung der Tüten mit Namen, Datum, Bekleidungsstück
Fotodokumentation
- Ausrüstung:
- digitale Kompakt- oder Spiegelreflexkamera
- Maßstab (z. B. ABFO No. 2)
- Computer - Anforderungen:
- zweifelsfreie Identifikation der betroffenen Person
- eindeutige Zuordnung der Verletzung(en) zur jeweils betroffenen Körperregion
- eindeutige Charakterisierbarkeit der Verletzungen durch qualitativ/technisch einwandfreie Aufnahmen - Praktisches Vorgehen
1. Anfertigung einer Übersichtsaufnahme
2. Anfertigung einer Portraitaufnahme
3. Übersichtsaufnahme einer Verletzung (betroffene Region muss erkennbar sein)
4. Detailaufnahme einer Verletzung mit Maßstab